Positionen (Deutsch)

Tim Caspar Boehme

Rückbesinnung auf den Körper

Rafael Torals Space Program als Grundlagenforschung elektronischer Musik

 

In den neunziger Jahren zählte Rafael Toral zu den innovativsten Gitarristen des Jahrzehnts. Der Portugiese war ein Pionier der Drone-Musik und versenkte sich, wie kaum jemand vor ihm, in die Klangmöglichkeiten seines Instruments. Dann gelangte er an einen Punkt, an dem er seinen bisherigen Weg als abgeschlossen betrachtete und änderte seine musikalische Strategie radikal. Mit dem auf mehrere Jahre angelegten Space Program erkundet er jetzt die Möglichkeiten einer neuen Klangsprache der elektronischen Musik. Im Mittelpunkt steht die körperlich-gestische Produktion von Tönen, als Instrumente dienen ihm simple Klangerzeuger, die er zum Teil selbst gestaltet.

 

 

Brian Eno als Stichwortgeber

Für Ideen und Konzepte konnte sich Rafael Toral schon früh begeistern. Als Jugendlicher entdeckte der 1967 in Lissabon geborene Musiker in einem Schallplattenladen Brian Enos Album Discreet Music, auf dessen Cover Brian Eno sein »System« beschrieb, das nahezu eigenständig Musik generierte, ohne dass er nennenswert intervenieren musste. Die von ihm getroffenen Entscheidungen führten zu einer Konstellation, in der er den musikalischen Prozess vorab plante und die anschließenden Ergebnisse sich selbst überließ, so dass er sie als Zuhörer verfolgen konnte. Diese Herangehensweise machte Toral ebenso neugierig wie Enos »Erfindung« der Ambient Music. »Ich war fasziniert von seiner Beschreibung einer Musik, die vollkommen in den Hintergrund treten kann, die sich aber auch mit Gewinn bewusst hören lässt. Ich dachte mir, dass ich diese Konzepte genauer erkunden möchte, insbesondere da sie unabhängig vom Stil zu vollkommen unterschiedlichen Resultaten führen können.«

 

Bei Toral war der Unterschied zu Enos Verständnis von Ambient stets deutlich zu hören. Der junge Experimentator schrieb keine Musik, die sich als »klingende Tapete« eignete (Enos Adaption von Erik Saties Idee der musiqe d’ameublement), sondern setzte auf massive Klänge, die den Raum ausfüllen, statt sich diskret auf Abstand zu halten. Über die neunziger Jahre hinweg erkundete der Gitarrist die Möglichkeiten von Drones, ruhigen Liegetönen, deren Dynamik sich innerhalb ihres Obertonspektrums abspielt, sei es mit Hilfe von Rückkopplungen, Überlagerungen oder elektronischen Bearbeitungen. Torals Drones waren nicht nur dicht gewebt, sondern auch überaus farbenreich, ihm gelang eine einzigartige Versenkung in das Klangspektrum seines Instruments, das in den unterschiedlichsten metallischen Schattierungen flirren und schimmern konnte.
Auf seinem Album Violence of Discovery and Calm of Acceptance aus dem Jahr 2000 erreichte er den Höhepunkt seiner Klanginnovationen. Während andere Künstler einen solchen Erfolg in der Regel nutzen, sich als »Marke« zu etablieren und den eingeschlagenen Weg zu perfektionieren oder zu variieren, entschied sich Toral für etwas völlig anderes und begann noch einmal ganz von vorn, in seiner Konsequenz eine ebenso einzigartige wie mutige Entscheidung.
»Ich wollte alles auf den Kopf stellen und so weit wie möglich in die entgegengesetzte Richtung gehen. Als erstes entschied ich, dass die neue Musik auf Stille beruhen würde, die mit klaren, scharfen Klängen ›bevölkert‹ ist. Zweitens sollte sie vollständig auf disziplinierten Echtzeit-Entscheidungen beruhen. Drittens sollte sie elektronisch sein.« Ironischerweise entschied sich Toral damit gegen den Zeitgeist, denn die außerakademische Drone- und Ambient-Musik erfreut sich seit einigen Jahren zunehmender Beliebtheit. Der Klang als physische Gewalt, als den Körper durchdringendes Frequenzenbad, hat in einigen Subgenres der experimentellen elektronischen bzw. Noise-Musik mittlerweile Fetisch-Charakter angenommen, und Bands wie die im Vergleich zu Toral wenig subtilen Extrem-Rocker Sunn O))) finden mit ihren langgezogenen Akkorden bei Publikum und Kritikern großen Anklang. In gewisser Hinsicht handelt es sich um einen erzwungenen Eskapismus: Bei den dröhnend lauten Subbässen, die den gesamten Körper durchfahren, kann man kaum noch von Versenkung sprechen, eher von einem Hineinwerfen der Hörer in den Klang, der weniger kontemplativ als kathartisch wirkt.
Mit solchen Formen der Geiselnahme seines Publikums hat Toral wenig im Sinn: »Ich hatte den Eindruck, dass es in unserer Zeit nötig ist, einen Schritt nach draußen zu machen und aktiv zu werden, etwas zu tun. Das widersprach einem musikalischen Versenkungs-Ansatz mit seinen isolationistischen, wenn nicht gar eskapistischen Tendenzen. Mir schien eine Musik, die auf direkter Aktion beruht und von wachem Bewusstsein angetrieben wird, weitaus angemessener zu sein.« Jenseits von ästhetischen Entscheidungen formuliert Toral damit auch einen sozio-politischen Anspruch an seine Kunst, mit dem er in seiner Verweigerung der kontemplativen Funktion von Musik eine eigene Antwort auf John Cages Programm der Befreiung der Töne zu geben scheint. Anders als viele engagierte Komponisten der Nachkriegszeit drückt Toral seine Kritik jedoch nicht mittels außermusikalischer Sujets aus, die er seinen Werken dann überstülpt, sondern beschränkt sich auf den performativen Aspekt seiner Musik.
Toral wurde schnell klar, dass er diese neue Musiksprache mühsam würde »erlernen« müssen und begann zunächst, in der Musikgeschichte nach Vorbildern zu suchen. Fündig wurde er in einem Genre, mit dem ihn bis dahin wenig verbunden hatte – Jazz. »Ich stellte fest, dass das musikalische Gebiet, auf dem disziplinierte Entscheidungsprozesse am weitesten entwickelt sind, der Jazz war.« Zuvor hatte sich Toral in erster Linie als Komponist verstanden, nun begann er sich mehr und mehr in die Rolle eines Performers hineinzudenken, dem die Performance selbst als Kompositionsmaterial dient.

 

 

Die Performativität der Stille

Das Album Space aus dem Jahr 2006 liefert einen ersten Einblick in Torals neue musikalische Identität. Als Auftakt zu seinem auf mehrere Jahre angelegten Space Program – ein Konzept, in dem er die Begriffe des Raumes und der Stille mehr oder minder synonym verwendet – wartet die Musik mit einigen wesentlichen Neuerungen auf: Die Töne treten vereinzelt gegeneinander an, statt schillernder Klangfarben aus der Gitarre beschränkt sich Toral auf elementare elektronische Klänge von einfachen Geräten wie modifizierten Taschenverstärkern, die in eine Zeit weit vor der digitalen Computerwelle zurückverweisen. Auch seine Kollaborateure überraschen: Der portugiesische Kornettist Sei Miguel und die Posaunistin Fala Mariam stammen aus der experimentellen Lissaboner Jazzszene.

 

Es war insbesondere Miguel, dessen eigene Experimente Toral zu einer musikalischen Syntax inspirierten, die auf einfachen Regeln beruht: »Es geht darum, ob Klänge kurz oder lang, hoch oder tief, regelmäßig oder unregelmäßig sind usw. Auch wenn sie sehr einfach sind, können sie sehr komplex werden. Gleichwohl spielen Intuition und Chaos in meinen Performances ebenfalls eine große Rolle.« Post-Free-Jazz-Electronic-Music nennt Toral den Ansatz des Space Program, in dem zwar keine harmonischen Gesetze gelten, Phrasierung und Swing hingegen von großer Bedeutung sind. Mit seiner Reihe Space Elements erprobt er unterschiedliche Konstellationen von elektronischen und akustischen Instrumenten, dabei arbeitet er neben Miguel und Mariam auch mit Avantgarde-Jazzern wie dem Saxofonisten Evan Parker zusammen. Den Musikern schreibt Toral oft keine Regeln vor, sondern reagiert auf ihre Einfälle. Schließlich folgt sein Space Program keinem fixen Regelwerk, es ist vielmehr im ständigen Fluss.

 

 

Körperlichkeit

Die direkte Aktion des freien Spiels hat über ihre experimentelle Syntax hinaus noch eine weitere Dimension, denn Torals elektronisches Instrumentarium wird, anders als Laptops oder Tasteninstrumente, mit sehr elementaren Bewegungen kontrolliert, sei es durch die Verwendung von Datenhandschuhen oder durch die Kombination von Taschenverstärkern mit Mikrofonen und photovoltaischen Zellen. So bekommt der Körper in seiner Musik eine neue Funktion: »Die Körperlichkeit der Performance in meiner gegenwärtigen Arbeit ist eine Reflexion des Direct Action-Ansatzes. Zugleich erkenne ich damit an, wie wichtig es ist, sich des Körpers auf der Bühne bewusst zu sein, was in der elektronischen Musik unüblich ist.«

 

Statt digitaler Exzesse beschränkt sich Toral auf sehr reduzierte Klänge. Mit dieser strengen Ökonomie seines Vokabulars will er »unnötige Töne« vermeiden. »Mit Klängen herumzuspielen, ist in der experimentellen Elektronik sehr verbreitet. Ich versuche hingegen diszipliniert und präzise zu sein, wenn ich Töne produziere.« Der sparsame Umgang mitTonmaterial ist zudem seinem Grundsatz geschuldet, die Musik auf Stille zu gründen. »Wie Cage feststellte, ist die Zeit der einzige Parameter, der Klang und Stille gemein ist. Cages Begriff der Stille (ihre Unmöglichkeit und ihre Entsprechung zur Unendlichkeit) waren für mich sehr wichtig. In den vergangenen Jahren habe ich jedoch mit dem Space Program einen völlig anderen Begriff von Stille verwendet, in dem sich zwar Anklänge an Cage finden lassen, der aber mehr damit zu tun hat, wie Jazzmusiker die Balance zwischen Aktion/Nicht-Aktion, Atmung, Pausen und der Strukturierung ihres Diskurses finden.« Diesen Ansatz hat Toral über die Jahre kontinuierlich verfeinert. »Ich benutze Stille auch als Maß für Dichte, die wiederum ein strukturelles Element der Gesamtform einer Performance ist. Man kann hier von ›strukturierter Phrasierung‹ sprechen, bei der die Phrasierung (und notwendigerweise auch die Verwendung von Stille in ihr) die Struktur sowohl hervorbringen als auch erkennbar machen.«
Toral hat für sein Space Program unterschiedliche Versuchsanordnungen gewählt: Einige Projekte realisiert er im Studio, andere werden live gespielt, neben Solo- und Kammerperformances arbeitet er auch an einem Space Collective, mit dem die Möglichkeiten einer orchestralen Version seiner Musiksprache ausgelotet werden sollen. Torals Rückbesinnung auf den Körper als Instrument und seine kreative Selbstbeschränkung auf die Verwendung einfachster elektronischer Klangerzeuger machen sein Space Program zu einer »Langzeitstudie über die Performance-Möglichkeiten der elektronischen Musik«, wie es Toral selbst nennt. Zugleich betreibt er Grundlagenforschung für die elektronische Musik insgesamt, die nach einer weitgehenden Ernüchterung im Umgang mit computergenerierten Klängen ein verstärktes Bedürfnis nach nicht-binärer Selbstverständigung hat. Sein aktueller Zwischenbericht Space Elements Vol. II gibt faszinierende Einblicke in den Entwicklungsstand seiner neuen Musiksprache, die immer organischer und selbstbewusster klingt.

 

by TIm Caspar Boehme

Positionen. Texte zur aktuellen Musik, 83/2010 “Embodiment”